Ist Handarbeiten nur was für Hausmütterchen?

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Wer sich schon gefragt hat, was nach dem großen Koch-Boom kommen könnte – bitte sehr, hier ist die Antwort: Der neue Lifestyle-Trend heißt Crafting – heißt: Handarbeiten. Sowohl das Kochen als auch das Craften spielen sich daheim ab und für beides braucht es Experimentierfreudigkeit und Kreativität.

craftingStrick dir’nen Gürtel! Aus `Stitch’n Bitch‘

Spitzenkompetenz

Crafter können Möbel entwerfen, Spielmaterial bauen und Kleider designen. Außerdem können sie meistens ziemlich gut bloggen. Craften erhöht die Selbstwirksamkeit und tut der Seele gut. Vor allem Frauen betätigen sich in der Craftingszene und das hat natürlich mit der genderspezifischen Erziehung zu tun, die man Mädls auch heute noch angedeien lässt. Mädchen trauen sich Handarbeiten eben eher zu als Jungs. Handarbeiten als Kulturleitstung sollte man aber nicht abwerten, nur weil vor allem Frauen darin gut sind.

Vor ein paar Jahren haben auch FeministInnen das Crafting entdeckt und veranstalten seither Nähkränzchen der anderen Art. Sie heißen zum Beispiel `Revolutionary Sewing Circle‘ und hier wird der subersive Umgang mit der Strickliesl und der Häkelnadel erprobt, in dem in traditionellen Spitzen- und Stickmustern irritierende Patterns und Lettern wie `homo sweet homo‘ hingeschummelt werden.

Knit happens

Debbie Stoller, die Gründerin des feministischen Magazins BUST und Pop-Ikone der Girlie-Bewegung, schleuste die  umstürzlerische Näh- und Strickbewegung in den Lifstyle-Mainstream emanzipierter Frauen. 2003 brachte sie den Bestseller Stitch’n Bitch raus und darauf folgten weitere erfolgreiche Handarbeits-Handbücher. Alles sehr bunte, fesche Modebücher für New Yorker Hipster-FeministInnen. Das letzte in der Reihe ist wieder ein Bestseller: Son of Stitch’n Bitch – Das Strickbuch für den Mann.

strickpulloverPullover-Strickvorschlag aus `Son of a Stitch’n Bitch‘

Crafting  und  Kapitalismuskritik

Es geht beim Crafting aber nicht nur um das Ausleben individueller Kreativität. Man will auch den Konzernen und ihren Massenproduktionen in Billigstlohnländern ein Stück weit den Rücken kehren. Und gerade Crafting kann auch vielen Frauen dabei hilfreich sein, sich eine neue Lebensgrundlage zu verschaffen. Diese Entwicklung wäre ohne die intensive Nutzung sozialer Medien nicht möglich gewesen. Wieder ein Beispiel dafür, wie mit Hilfe des Internets herkömmliche Vertriebswege und traditionelle Medien umgangen werden können.

stickmusterCrafting und Internet gehen zusammen! Gesehen auf hellocraftlovers.com

Crafters im deutschprachigem Raum? Ja, es gibt sie!

Beispielsweise Jolijou. Eine Crafterin aus Berlin, nein, Verzeihung, seit wenigen Wochen ist sie Potsdamerin. Der Wunsch nach einem Garten vertrieb sie aus der Metropole. Die Mutter von drei Kindern (8 und 3 Jahre  und ein 10 Monate  junges Baby) war früher im Marketing tätig. Heute hat sie ihre Passion zum Beruf gemacht und ist hauptberuflich Craft-Bloggerin.  Monatlich lesen ca. 10.000  Kreativinteressierte ihren Blog, der nur so vor Farben und Aktivitäten strotzt.


deutschland

Jolijou, Carfterin und  Bloggerin aus Deutschland

Gibt es ein deutsches Wort für Crafting?

Naja, ich würde sagen, am besten passt wohl das Wort Handarbeiten, da es im Grunde alles beschreibt was man mit den Händen gestalten kann. Dazu gehören zum Beispiel Siebdruck, Schneidern, Holzarbeiten, Schmuckgestaltung, und noch  sehr vieles mehr….

Manche FeministInnen finden Stricken und Häckeln seien Anachronismen aus den 50ern und könnten auch ruhig dort bleiben…

Eines vorweg. Crafting ist längst nicht mehr nur eine Freizeitbeschäftigung für gelangweilte Hausfrauen oder im Keller werkende Vatis. Do-It-Yourself erlebt in Deutschland gerade einen regelrechten Boom. Während man das Handarbeiten früher eher belächelte und sich darunter sockenstrickende Muttis und deckchenhäkelnde Omis vorstellte, ist dieses Bild inzwischen total antiquiert. Heutzutage ist Crafting trendy! Das beweisen auch die unzähligen Crafting-Blogs in denen man die stylischen Ergebnisse der Crafter bewundern, nachmachen oder sich zu eigenen Ideen inspirieren lassen kann. Dort findet man keine langweilige Massenware oder hässlichen Billigschrott sondern liebevoll gestaltete Designerstücke. Ich finde daher, Crafting ist Individualismus pur!

Ist Crafting eine Subkultur?

Hmm…Subkultur, das klingt so aufmüpfig. Ich finde Crafting ist viel mehr eine Lebenseinstellung! Getrieben vom Drang, etwas Sinnvolles mit seiner (Frei-)Zeit zu machen, seine Ressourcen auszuschöpfen, seine Welt aktiv mitzugestalten, den Zeitgeist zu prägen, sich selber zu verwirklichen. Für viele ist das Kreativsein aber auch mehr als nur ein Hobby sondern eine reelle Chance, beispielsweise durch den Verkauf ihrer Sachen eine eigene Existenz aufzubauen, für manche bedeutet das vielleicht den Weg aus der Arbeitslosigkeit oder eine Alternative zum trägen Bürojob. Für mich ist es die beste Möglichkeit neben meinem Job als Mutter, mich kreativ zu verwirklichen und mir etwas Eigenes aufzubauen.

Wie bist du dazu gekommen?

Ich war schon immer in irgendeiner Form kreativ. Das ist bei mir ein Zwang. Bevor ich den Haushalt mache, setze ich mich lieber hin und entwerfe irgend etwas (oft zum Leidwesen der Restfamilie…lach). Nähen gelernt habe ich schon ganz früh, damals auf einer alten Singer-Tretmaschine, die meine Eltern auf dem Flohmarkt gekauft hatten, weil kein Geld für eine elektrische da war. Mann, war das ein Getrete!! Nur am Rande: eine Tretorgel hatten wir übrigens auch, ich glaube meine Beine waren immer gut durch trainiert.

stoff selber

Jolijou entwirft viele  Schnittmuster und auch Stoffe. Daraus  können die unterschiedlischten Kreationen entstehen…

Wie viele andere auch, habe ich das Nähen dann erst wieder so richtig aufgegriffen als meine Tochter auf die Welt kam, bin dann öfter auf ihre Sachen angesprochen worden. So kam eines zum anderen und ich verkaufte in kleiner Auflage Kindermode unter dem Label jolijou. Um mich mit anderen Gleichgesinnten auszutauschen und meine Designs zu präsentieren habe ich später angefangen zu bloggen.

stoff designen

Beispielsweise ein fesches Tuch mit schwarzen Bommeln…

Wie entwirft man eigentlich  einen Stoff? Braucht es da nicht industrielle Maschinen?

Dank Stoffn oder Spoonflower ist das gar nicht so schwer. Ich brauche immer ein Thema, dann kommt der Rest von ganz alleine….Grundmotive Zeichnen, Muster ausrichten, hochladen, Probedruck bestellen!

Wie hat ist die Crafting-Community in Deutschland entstanden?

Seiten wie Farbenmix oder Dawanda gaben vor einigen Jahren wohl den nötigen Impuls für den Boom. Farbenmix revolutionierte die Nähwelt mit seinem unkonventionellem Sortiment, sodass das Nähen für eine breite Masse plötzlich attraktiv wurde. In seiner Galerie bot es Kreativen erstmalig eine Plattform, um ihre Nähwerke zu präsentieren, mit anderen Mitgliedern über neue Ideen zu fachsimpeln und sich über neueste Techniken auszutauschen. Ich denke darin liegt auch die Erklärung des Craftingbooms begraben, denn während unsere Werke dem engeren Umfeld im besten Fall ein höfliches Schulterzucken abnötigen würden, treffen wir im WWW  auf Menschen die sich wirklich für unsere Produktionen interessieren, die es nicht langweilt wenn wir ausschweifend erzählen wie das Werk zustande kam, welche Materialien wir dafür bevorzugen oder wie wir es beim nächsten Mal besser machen wollen. Das ist auch das Schöne am Bloggen, Gelangweilte klicken einfach weg, Interessierte hinterlassen vielleicht sogar einen netten Kommentar. Und da Applaus des Künstlers schönster Lohns ist, motiviert das ungemein zum Weitermachen.

Kann man mit Crafting Geld machen?

Durchaus. Auf Dawanda beispielsweise haben Crafter die Möglichkeit nicht nur Lob sondern auch Geld mit ihrer Arbeit zu verdienen. Inzwischen sind dort 650.000 Mitglieder registriert die täglich 6.000 neue Produkte einstellen oder kaufen. Seit neuestem haben viele Crafter auch Facebook und Twitter als wichtiges Tool entdeckt um sich mit kreativen Köpfe aus aller Welt auszutauschen, ihre Produkte zu bewerben oder zu fachsimpeln.

Trotzdem, die Crafting-Szene steckt in Deutschland, gerade im Vergleich zu den USA, noch in den Kinderschuhen. Für einige hat es wohl immer noch einen angestaubten Hausmütterchen-Touch, aber ich bin mir sicher, es wird nicht mehr lange dauern und dann sind auch die letzten Skeptiker überzeugt.

blog

…oder der Stoff findet sich als Applikation auf einem T-shirt für den Sohn wieder

Kann man auch mit dem Bloggen übers Crafting Geld verdienen?

Rein theoretisch kann man das. In Deutschland ist das Sponsoring aber bislang nicht so verbreitet wie in vielen angelsächsischen Blogs. Ich persönlich sehe allerdings nichts Verwerfliches daran, gut ausgewählte Empfehlungen weiterzugeben und dafür Geld zu nehmen, schließlich investiert man ja auch sehr viel Zeit und Liebe in die Blog-Pflege. Ich selber klicke gerne mal eine nett aufbereitete Anzeige an um zu sehen was sich dahinter verbirgt und habe dadurch schon tolle Seiten gefunden.

Gibt es auch Männer in der Crafting-Szene?

Oh ja! Ein ganz bekannter Blogger ist zum Beispiel Joel Henriques, der immer die tollsten selbstgemachten Spiele oder Bastelideen für Kinder zeigt.

Ihr seid gerade nach Potsdam gezogen. Wie ist das neue Lebensgefühl?

Das neue Mietshaus ist nich spektakulär, es ist eine Zwischenstation auf dem Weg zum Traumhaus, welches wir noch nicht gefunden haben, aber der Druck, aus der Stadt weg zu ziehen war so enorm, dass wir schnell geflüchtet sind. Wir wollten den Kindern die Möglichkeit geben, im Grünen aufzuwachsen. Mitten in Kreuzberg ist es zwar sehr schick für uns Eltern, aber für Kinder mit ihrem natürlichen Bewegungsdrang doch eher auf Dauer eine Qual.

Das Schöne am Bloggen ist ja auch der Nahkontakt zu den LeserInnen, oder?

Ich freu mich über jeden einzelnen! Aber bei den Glückwünschen zur Geburt meines Jüngsten hatte ich reihenweise Tränen in den Augen.
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10 Kommentare

  1. schönes interview!ich „crafte“ auch schon seit meiner kindheit und finds toll,dass es so viele machen und spaß dabei haben und ihre ideen und werke mit anderen teilen (blogs,dawanda..) den trend (DIY) gibts in amerika seit einigen jahren, dort hat er sich auch über ETSY verbreitet…kein wunder, in einer welt in der es so schnell so viele neue dinge gibt, die man lernen und begreifen muss (pc`s,programme,handytools…),greifen viele gern zu „handarbeiten“, zu dingen also , die man von mama oder oma…auf jedenfall jedoch von „früher“ kennt…stoffn ist übrigens wirklich klasse!gruß MONPTI

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