Schreibaby!

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Schon kleine Babys können psychosomatische Symptome zeigen. Schreibabys zeigen  dramatische Reaktionen. Manche Babys hören plötzlich zu essen auf. Die Eltern stehen fassungslos, verzweifelt und handlungsunfähig daneben und würden das Baby am liebsten fragen: „Baby, warum isst du nicht?“ Aber leider können Babys nicht sprechen. In solchen Fällen fungiert Josephine Schwarz-Gerö als eine Art Baby-Dolmetscherin. Sie leitet die Säuglingspsychosomatik im Wiener Wilhelminenspital. Kürzlich erschien ihr Buch `Baby, warum isst du nicht?´ im Patmos Verlag.
wilhelminenspital
Familie Rockt: Für viele Menschen ist das sicher sehr überraschend, dass Säuglinge schon Essstörungen haben können und dass es überhaupt eine Säuglingspsychosomatik gibt!
Josephine Schwarz-Gerö: Wenn ich sage, ich leite eine Säuglingspsychosomatik-Station, ernte ich schon sehr großes Erstaunen. Die meisten denken dabei an Morbus Crohn oder Herzinfarkt. Bei den Babys ist das natürlich anders. Die Klassiker hier sind Schlaf- Schrei- und Fütterungsprobleme. Essstörungen sind ein besonders großer Part, weil man da die schwierigeren Fälle meist gar nicht ambulant behandelt kann.
Familie Rockt: Suchen Eltern schneller Hilfe bei Ihnen, wenn das Kind nicht isst als bei anderen Störungen?
Josephine Schwarz-Gerö: Die Angst, dass das Kind verhungern könnte, geht ja sehr tief!
Wenn das Kind längere Zeit nicht isst, liegen natürlich die Nerven blank. Dann ist es wirklich wichtig, dass diese Kinder im stationären Bereich behandelt werden. Erstens, um die Angst der Eltern abzufangen, und um den Eltern die alleinige Verantwortungslast abzunehmen. Und selbst bei uns auf der Station kann es dann für die Eltern oft sehr schwierig auszuhalten sein, dass das Kind wieder nichts gegessen hat. Speziell zu Beginn der Therapie braucht es da viel Geduld. Aber die meisten Eltern wissen oft gar nicht, an wen sie sich wenden können. Unsere Einrichtung ist auch nur eine sehr kleine Station. Die meisten kommen hierher, weil Fachleute wie das Jugendamt oder ein Facharzt sie zu uns überwiesen haben. Es gibt eine sehr lange Warteliste und das finden wir sehr problematisch, weil es sich durchgehend um Menschen handelt, die wirklich unsere Hilfe brauchen!
schreiambulanz
Familie Rockt: Wie arbeiten Sie mit den Eltern?
Josephine Schwarz-Gerö: Es gibt keine Säuglingspsychosomatik ohne Videos. Denn das Baby spricht nicht. Es verhält sich. Man muss es beobachten. Es ist kein Zufall, dass die Säuglingsforschung zeitlich mit der Erfindung des Films zusammenfällt. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Der Säuglingsforscher Andrew Meltzoff hat gesagt: „Wir haben in den letzten 30 Jahren mehr über den Säugling gelernt als in den letzten 3000 Jahren.“ Auch wir in der Therapie analysieren die Videos und dann gehen wir das Material mit den Eltern durch und besprechen sehr eingehend ihr Verhalten und wie das Baby darauf reagiert oder was das Baby mit welchen Signalen meint und ausdrückt. Man kann Babys auf diese Weise auch Fragen stellen. Es ist eine sehr intensive und emotionale Arbeit. Babys sind nicht so einfach gestrickt, wie wir es immer gedacht haben. Sie sind überraschend nuancierter in ihrer Wahrnehmung und in ihrem Denken. Dass beispielsweise ein wenige Wochen altes Baby mit dem Blick eine Kugel verfolgt, die hinter einer Wand verschwindet und es dann mit dem Blick erwartungsvoll auf die andere Seite der Wand wandert, weil es erwartet, dass die Kugel dort wieder auftaucht. Man hat am Anfang gar nicht glauben können, dass so kleine Kinder schon so am Leben teilhaben und solch komplexe Zusammenhänge herstellen können. Abgesehen von der direkten Arbeit mit den Babys, gibt es auf unserer Station auch noch ein intensives Angebot an Psychotherapien. Sowohl die eigene Biographie als auch die Partnerschaft spielen ja auch oft eine große Rolle.
Familie Rockt: Man hat ja lange gedacht, dass Babys sehr sehr passiv sind und vor allem Geborgenheit brauchen…
Josephine Schwarz-Gerö: Früher hat man Babys vor allem darüber definiert, was sie alles nicht können. Das war das sogenannte Defizitmodell. Und seit der Säuglingsforschung ist man drauf gekommen, dass sie schon von Geburt weg ein unglaubliches Knowhow mitbringen und schnell dazulernen. Sie sind sehr neugierig und ziehen eigene Schluss-
folgerungen. Das alles hat ja dann zum Schlagwort vom kompetenten Säugling geführt. Aber selbstverständlich benötigen sie ebenso Geborgenheit. Das schließt einander ja nicht aus.
Familie Rockt: Kann man sagen, dass die Essensverweigerung eines Säuglings auf einer Art Schlussfolgerung des Babys basiert?
Josephine Schwarz-Gerö: Naja, wenn ein Kind beispielsweise lange mit einer Sonde ernährt worden ist, kann es sein, dass es zum Schluss gekommen ist, dass normale Essensaufnahme unnötig ist. In so einem Fall nicht ganz zu unrecht. Es hat das Essen sozusagen verlernt. Auch wenn plötzlich sehr viel unangenehmer Druck gemacht wird, dass es unbedingt essen muss, kann das problematische Folgen haben. Babys lernen dann, dass Essen eben unangenehm ist.
Wir haben hier auch viele Babys, die als Frühchen auf einer Intensivstation gelegen sind. Jetzt kann man sich vorstellen, dass die Eltern in dieser Zeit große Ängste empfunden haben. Diese Ängste verschwinden danach nicht einfach. Die bleiben oft noch lange bestehen. Auch wenn die ersten Wochen im Krankenhaus in Hinblick auf die Nahrungsaufnahme sehr sorgenvoll verlaufen sind, verbindet das Baby diese vielleicht mit diesen negativen Gefühlen. Auch wenn die Nahrungsaufnahme nach dem Krankenhausaufenthalt weiterhin von ängstlichen Gefühlen der Eltern begleitet wird, können manche Babys die Freude am Essen verlieren.
Familie Rockt: Wie kann man Eltern bei psychosomatischen Störungen ihrer Babys eine therapeutische Rolle zuerkennen?
Josephine Schwarz-Gerö: Indem sie ihr Baby ernst nehmen und ihm das auch zeigen. Auf Signale des Babys reagieren. Mit dem Baby sprechen, spielt hier zum Beispiel eine große Rolle. Aussprechen, was das Baby meint oder gerade erlebt. So fühlt sich das Baby verstanden und lernt sich selbst verstehen. Was machen alle Eltern in allen Kulturen? Sie bemuttern bzw. bevatern ihre Babys. Dieses menschliche Beelterungsverhalten wurde auch im Rahmen der Säuglingsforschung beleuchtet. Tatsache ist, dass wir uns an unsere Säuglingszeit zwar nicht erinnern können, sie aber sehr wohl emotional abgespeichert haben. Leider haben wir keinen bewussten Zugriff darauf und genau deswegen wiederholt sich ein bestimmtes Elternverhalten oft über ganze Generationen. Als Eltern behandle ich also unbewusst meinen Säugling ähnlich wie ich als Säugling behandelt wurde. Das ist echt eine Schlüsselstelle, an der man das Schicksal aufhalten und umleiten kann. In kürzester Zeit kann man hier bei Eigentherapie viel erreichen.
Familie Rockt: Da bieten sich also große Chancen?
Josephine Schwarz-Gerö: Eine Kollegin von mir, Dr. Reiner-Lawugger von der perinatalen Psychiatrie, hat die Problematik einmal so zusammengefasst: Frühe Störung – hohe Kosten. Das heißt, was da nicht getan wird, wächst sich aus und fällt dann allen zur Last. Dem Kind, den Eltern und eben sogar der Allgemeinheit. In jeder Form. Dem späteren Erwachsenen geht es nicht gut, der Gesellschaft tut es nicht gut, Krankenkosten fallen an etc. Säuglinge schicken schon ganz früh Zeichen aus, dass sich etwas nicht gut entwickelt und darauf kann man reagieren.
Familie Rockt: Was mache ich wenn mein Kleinkind nicht essen will?
Josephine Schwarz-Gerö: Das was man sich geläufig als Lösung vorstellt, ist oft nicht so geeignet, um das Kind zum Essen zu bewegen. Das Häufigste, was fast alle Eltern versuchen, ist Ablenken, Austricksen, Nahrung verändern, mehr oder weniger Druck ausüben. Dadurch werden Essprobleme aber eher größer. Das Kind fühlt sich immer weniger verstanden. Auch das darüber Nachdenken bringt meist keine Lösung. Denn als Erwachsene sind wir immer kausal orientiert. Wir denken: Was ist die Ursache des Problems und da setzen wir dann an. Das funktioniert bei Kleinkindern und Babys aber nicht so simpel. Denn in der Zwischenzeit hat sich das Kind schon wieder verändert. Kleinkinder entwickeln sich pausenlos weiter. Oft macht es während einer einzigen Mahlzeit die größten Fortschritte. Die ursprüngliche Ursache mag die Gleiche geblieben sein, aber der Lösungsansatz greift nicht mehr. Das heißt, die Vorgeschichte ist natürlich schon interessant, aber vor allem geht es darum, das Kind im hier und jetzt wahrzunehmen. Wie ist es jetzt? Was braucht es jetzt? Was signalisiert es jetzt? Babys haben meist genau das gleiche Ziel wie die Eltern. Auch sie wollen essen. Sie gehen nur einen anderen Weg. Oft ist genau das, was die Eltern stört, sogar ein wichtiger Hinweis. Diesen Hinweisen nachzugehen, das Kind auf seinem Lösungsweg zu begleiten, macht oft mehr Sinn. Das Kind will nicht mehr in den Hochsessel? Vielleicht ist es wirklich schon zu groß dafür! Das Kind greift zum Besteck? Vielleicht will es selbst essen lernen. Es will mit dem Essen nur spielen? Gut möglich, dass es nach ausgiebigem damit Spielen sogar sehr gerne isst. Nur eben danach. Zur Verarbeitung ist es natürlich wichtig, sich mit den Eltern zusammenzusetzen und zu besprechen, wie es überhaupt dazu gekommen ist? Aber das versteht man eigentlich erst dann, wenn das Kind kein Problem mehr hat. Wenn man einen richtigen Lösungsansatz gefunden hat, und sich die Problematik aufgelöst hat, erst dann kann man zurückspulen und verstehen, was passiert ist. Und die Lösung ist immer eine andere, weil sie so vom Alter des Kindes und der Dauer des Problems abhängt.
Familie Rockt: Was kann hinter einer Essstörung stecken?
Josephine Schwarz-Gerö: Man muss da zwischen Ursachen, Auslöser und Eigendynamik unterscheiden. Ursache kann alles sein, was Kind oder Eltern belastet. Ein Geschwisterl kommt. Spannungen zwischen den Eltern aber auch ganz simple körperliche Ursachen. Z. B. kann oft in den ersten Wochen eine problematische Essensaufnahme auf unreife Organsysteme zurückgeführt werden. Auch wenn sie von Milch auf Breinahrung umsteigen, kann das für manche Babys frustrierend sein, weil sie es noch nicht schaffen, den Saugreflex abzustellen. Das bedeutet dann aber nicht, dass es ihnen grundsätzlich nicht schmeckt. Sind die Eltern aber einmal alarmiert und machen sich Sorgen, so beginnt die Eigendynamik das Problem erst richtig anzuheizen. Mütter haben da ja buchstäblich das Gefühl, sie gehen im Kreis.
Familie Rockt: Kann auch das zu frühe Verabreichen der Flaschenmilch dazu führen dass das Baby die Brust verweigert?
Josephine Schwarz-Gerö: Es gibt sehr viele Ratschläge, die die Mütter schon im Wochenbett erhalten. Dazu gehört, dass man in den ersten Tagen, wenn die Babys das Saugen erst erlernen, nicht zu viel zwischen Flasche und Brust hin und her wechseln soll, um es nicht zu verwirren. Später ist das aber kein Problem. Es ist oft so, dass Ratschläge über eine längere Zeit mitgenommen werden bis in eine Zeit hinein, wo sie gar nicht mehr gelten.
Familie Rockt: Was gibt es für klassische Gründe für pathologische Essensverweigerung bei Kleinkindern?
Josephine Schwarz-Gerö: Sehr viele dieser gravierenden Essensprobleme beginnen mit einer harmlosen Infekterkrankung, auf Grund derer das Kind den Appetit verliert und ihn dann auch nicht wiederfindet, speziell wenn die Mutter schon zuvor sehr ängstlich in Bezug auf die Nahrungs-
aufnahme war. Man könnte sagen, in solchen Fällen ist die Angst der Mutter zwar die Ursache, der Auslöser ist aber erst der Infekt.
Man muss diese Mütter natürlich auch verstehen. Die leiden sehr unter der Situation. „Mein Kind nimmt nicht an, was ich ihm gebe. Und was ich ihm geben will ist ja auch Liebe.“ Große Bedeutung haben auch die Entwicklungssprünge und die dadurch veränderten Bedürfnisse der Kinder. Manche Kinder verweigern das Essen plötzlich, wenn sie das Wort Nein entdecken. Da geht es dann um Selbstbestimmung. Merken sie dann, dass der Mutter das Essen sehr wichtig ist, dass sie in dem Punkt sehr ängstlich ist, dann kann es sein, dass das Kind gerade in diesem Bereich, die Verweigerung besonders spannend findet. Gravierende Essprobleme setzen sich meist aus dem Zusammentreffen der verschiedensten Ursachen zusammen. Und die potenzieren sich dann gegenseitig.
Familie Rockt: Kann es vorkommen, dass eine bestimmte Flaschennahrung den Kindern nicht schmeckt? Dass man also Marke wechseln muss, damit es trinkt?
Josephine Schwarz-Gerö: Also ich hab das noch nie erlebt. Es gibt schon Kinder, die geschmacklich übersensibel sind. Es gibt immer Extremfälle. Unter- oder Überempfindlichkeit im Mundbereich etc. Es gibt Kinder, die lösen das dann so, dass sie zum Beispiel eine Zitrone abschlecken, weil sie starke Reize brauchen. So etwas können Kinder schon mitbringen. Aber üblicherweise ist der Geschmack selber nicht von solcher Bedeutung, wie wir Erwachsenen oder Eltern das denken. Es schmeckt ja auch die Muttermilch nicht besonders. Hingegen, bei Kleinkindern spielt es eine sehr große Rolle, ob die Eltern das, was das Kind essen soll, auch selber essen. Die Kleinkinder beobachten das sehr genau. Sie denken dann Ah, das will ich auch kosten. Oder aha –mir schmeckt das zwar nicht, aber es ist essbar. Ich glaube, dass ist eine Sicherheitsmaßnahme der Natur, die Kleinkinder davon abhalten soll, giftige Beeren zu essen. Statt dessen gilt das Motto: Essen die anderen das auch? Man kann sich natürlich nicht darauf verlassen, aber das Phänomen gibt es schon. Als Erwachsener selbst mit dem Essen zu beginnen, und nicht zuerst das Kind zu füttern, kann deshalb bei Kleinkindern sehr wichtig sein.
Familie Rockt: Sind die Schrei-Babys komplizierter zu heilen als die Babys mit Essstörungen?
Josephine Schwarz-Gerö: Grundsätzlich überschneiden sich viele Problematiken. Schrei-Babys lösen aber zusätzlich auch Aggressionen und Erschöpfung aus. Das Schrei-Baby gefährdet sich dadurch selber. Das Familiensystem kann dadurch so unter Druck kommen, dass das Leben des Babys in Gefahr ist, denn beispielsweise kann Schlafentzug bei Erwachsenen sogar Psychosen hervorrufen. Aber auch das Gefühl, nie zu reichen, nie in der Lage zu sein, das Baby zufriedenzustellen, kann in manchen Eltern verzweifelten Zorn auslösen.
Familie Rockt: Würden Sie sich wünschen, dass Eltern die ein Schreikind zu Hause haben und sich denken Ich halte das nicht mehr aus einfach zu Ihnen kommen könnten?
Josephine Schwarz-Gerö: Ja auf jeden Fall. Allerdings haben wir nur eine kleine Schreiambulanz. Aber auch andere Kinderkliniken haben Stellen, an die man sich wenden kann. Trotzdem finde ich, dass in diesem Bereich noch viel zu wenig gemacht wird. Dabei bietet der Zugang der Säuglingspsychosomatik wirklich neue Erkenntnisse, die weit ins spätere Erwachsenenleben der Babys einwirken. Ja, sogar in die nächsten Generationen. Und, wie gesagt, Schrei-Babys befinden sich oft in einer Gefahrensituation. Alle Eltern sollten wissen, dass es uns gibt und dass sie kommen können, wenn es zuviel wird.
Familie Rockt: Wie kann man Schrei-Babys zufriedenstellen?
Josephine Schwarz-Gerö: Es gibt keine Universallösung. Man muss das Kind beobachten und analysieren, und sich fragen, was will es wirklich? Was ich aber schon oft erlebt habe: Den ganzen Tag wird das Baby herumgetragen und es schreit trotzdem und dann legt man es am Abend endlich hin und plötzlich ist es zufrieden und schläft ein. Eigentlich können manche Babys nämlich sehr kompetent sein und wüssten, sich selber gut zu beruhigen. Eltern können da auch zuviel machen.
Familie Rockt: Gibt es Kinder die so viel Aufmerksamkeit brauchen, dass man sich wirklich 24 Stunden beschäftigen muss, damit es zufrieden ist?
Josephine Schwarz-Gerö: Eltern können in der Anfangszeit und in Krankheits- und Krisenzeiten 24 Stunden eingespannt sein, aber ansonsten habe ich noch nie erlebt, dass ein 24-Stunden-Engagement der Eltern die einzige Lösung ist, um ein Kind zu beruhigen.
Also, wenn das Kind wirklich dermaßen anstrengend ist, dann liegt die Lösung meistens nicht in einer Mehrleistung der Eltern, sondern oft daran, dass das Kind möglicherweise eine neue Entwicklungsstufe erlangt hat und Eltern das nicht merken oder darauf nicht adäquat reagieren. Auch schon sehr kleine Kinder haben ein sehr starkes Bedürfnis nach Sinn und Zusammenhang. Wenn sie eine Handlung setzen, erwarten sie, dass eine logische Reaktion folgt. Unterschätzt oder unterfordert zu sein, kann auch schon ein Baby stressen oder unruhig machen.
Familie Rockt: Viele Leute, die sich sehr viel Sorgen machen und sich dauernd auf Trab halten und glauben, dass sie nicht genügen, für die ist das vielleicht tröstend zu wissen?
Josephine Schwarz-Gerö: Je älter das Kind wird, umso mehr übernimmt es Aufgaben, die vorher den Eltern zugefallen sind – wenn man es lässt und ermöglicht. Ich muss als Elternteil nicht der große Unterhalter sein, aber ich muss mich fragen, ob das Kind genügend Möglichkeiten hat, um sich selbst Unterhaltung zu organisieren. „Hab ich dem Kind was Interessantes – und auch immer wieder Neues – hingelegt? Kann es sich frei bewegen? Ist das Kind herausgefordert, etwas selbst zu erwischen, oder liegt alles bequem aber auch langweilig in unmittelbarer Greifnähe?“ Das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und nach sinnvoll zusammenhängenden Erfahrungen wird oft unterschätzt.
Familie Rockt: Ist es wichtig, dass man als Eltern mit dem Kind spielt – vielleicht sogar, obwohl es einem nicht Spaß macht?
Josephine Schwarz-Gerö: Das was das Kind kann, soll es anwenden können. Dann ist es auch zufrieden. Ich empfehle den Eltern, das zu machen, was ihnen auch selber Spaß macht und das Spielen mit dem Kind macht natürlich auch mehr Spaß, wenn man versteht, warum dieses Spiel für das Kind gerade so interessant ist. Ab einem gewissen Alter wollen die Kinder eigentlich oft nur haben, dass die Eltern zuschauen und beobachten, wie toll das Kind das macht. Sie brauchen das alles nicht selber bauen! (sie lacht)
Das ist wirklich wie ein Stufensystem bei dem man sich schrittweise zurückziehen kann. Ich nehme dich wahr – das muss signalisiert werden, aber Eltern sind nicht die Unterhalter der Kinder. Das muss überhaupt nicht sein.
Familie Rockt: Sind andere Babys vielleicht die besseren Spielkameraden als die Eltern? Früher hat man ja gedacht, dass Babys sich nicht für andere Babys interessieren.
Josephine Schwarz-Gerö: Das stimmt überhaupt nicht. Es läuft nur anders ab als bei Freundschaften unter größeren Kindern. Sie beobachten einander und eine halbe Stunde später macht das eine Baby plötzlich das, was das andere Baby eine halbe Stunde zuvor gemacht hat. Die Aufmerksamkeitsspannung bei Babys ist einfach kürzer. Sie schauen sich eine Weile an und dann schauen sie wieder weg, Nicht, weil es uninteressant ist, sondern weil sie die Pause brauchen. Wenn Eltern dann glauben, dass das Kind nicht interessiert ist und es aus der Situation holen, stören sie das Kind unter Umständen bei seiner Selbstregulation. Dann fängt es zum Beispiel zum Weinen an, weil die Eltern zu viel machen und das Baby nicht in Ruhe seine Exploration durchführen lassen.
Familie Rockt: Das spricht dann aber für eine Babykrippe?
Josephine Schwarz-Gerö: Natürlich, aber das ist ein eigenes Kapitel. Wie geht eine Kultur mit ihren Babys um? In den Niederlanden oder in Frankreich gibt es genug Babykrippen. Dieser Anspruch, der bei uns eher vorherrscht, nämlich dass die Mutter jahrelang allein zuständig ist für die Versorgung der Kinder, den kann ich nicht unterstützen. Im Gegenteil. Bei vielen Fällen von Essproblemen bei Kindern im zweiten Lebenshalbjahr ist sehr oft der Vater die Lösung. Manchmal übernehmen wir auf der Station sogar die Vaterrolle. Wir spielen quasi den Vater.
Familie Rockt: Der bricht dann gewisse Systeme, die sich eingebürgert haben?
Josephine Schwarz-Gerö: Ja, er ist der Dritte – der Andere. Und damit relativiert er die Handhabe der Mutter. Er entlastet sie dadurch aber auch.
Familie Rockt: Gab es auch Situationen, in denen Sie nicht weitergewusst haben?
Josephine Schwarz-Gerö: Es gibt schon sehr schwierige Konstellationen, aber die sind glücklicherweise selten. Das Limitierende sind zum Beispiel schwere psychiatrische Erkrankungen wie Persönlichkeitsstörungen, bei denen das Kind die oft langjährig notwendigen Therapien der Eltern nicht abwarten kann. Oder Sprachprobleme. Mit Dolmetschern eine ganze Therapie durchzuführen, ist schon sehr schwierig.
Familie Rockt: Aber das sind dann wahrscheinlich Fälle, die über Jahre von der Wohlfahrt betreut werden und auch das Jugendamt ein Aug drauf hat, oder? Die werden dann nicht einfach nur nach Hause geschickt?
Josephine Schwarz-Gerö: Nein, natürlich nicht.
Familie Rockt: Wie sehr erfüllt Sie Ihre Arbeit?
Josephine Schwarz-Gerö:Ich habe mit Kindern zu arbeiten angefangen, weil ich dachte, dass man früh ansetzen muss, um positiv auf die Erwachsenen einzuwirken und dann bin ich drauf gekommen, dass man eigentlich noch viel früher ansetzen muss. Und dann habe ich plötzlich Säuglinge behandelt.
Wenn ich manchmal denke, wie lange Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen mit ihren Klienten und Klientinnen arbeiten müssen, oft so lang, wie die Kindheit gedauert hat, was für eine Geduld diese Therapeuten und Therapeutinnen aufbringen müssen, dann denke ich mir, wie schnell wir hier manchmal Verbesserungen herstellen können und wie motiviert dann auch die Eltern sind, sich zu verändern und ihr Verhalten umzustellen. Das ist wirklich faszinierend und sehr erfüllend! Worunter ich dann sehr leide ist, dass dieses Thema der sehr frühen Intervention noch immer nicht in ausreichendem Ausmaß von der Politik aufgegriffen wird. •
 
Das Interview führte Patrice Fuchs
Lisa, 18 Monate
Das Thema Essen ist für Lisas Mutter eine Qual. Lisa hat nie viel gegessen, aber in letzter Zeit isst sie immer weniger. Mittlerweile macht sich auch die Kinderärztin Sorgen. Lisas Mutter kocht alles selbst und püriert es dann. Sie kauft nur biologisch hochwertiges Essen ein und nimmt dafür lange Einkaufswege in Kauf. Trotzdem schmeckt es Lisa scheinbar nicht. Bei der Probemahlzeit auf der Station nimmt Lisa das Essen zwar in die Hand, wirft es dann aber auf den Boden. Statt dem Hochsessel wird nun ein Picknick-Essen hergerichtet. Das heißt: Es werden unterschiedlichste Nahrungsmittel direkt am Boden angerichtet. Das Kind soll aufstehen, weggehen, wiederkommen, essen, nicht essen, wie es selber will. Währenddessen essen die Eltern in guter Laune ihre Mahlzeit – auch so wie sie es gerne wollen.
Lisa kommt in den Raum und setzt sich etwas zögerlich auf die Decke. Ihre Mutter schiebt ihr sogleich ihr Gedeck hin. Daraufhin schmeißt Lisa eine Biskotte in die Ecke, steht auf und verlässt das Picknick. Statt dessen spielt sie mit einem Auto. Dabei schaut sie hin und wieder zur essenden Mutter. Nach einiger Zeit kehrt sie zurück und setzt sich zur Mutter und ergreift nochmal die weggeworfene Biskotte. Die Mutter hält ihr einen Löffel Brei hin und fragt: „Magst du kosten?“ Lisa überlegt und verwendet dann die Biskotte als Löffel, die sie in den Brei hält. Es ist ihre eigene Idee und ihr eigener Entschluss. So macht ihr Essen Spaß. Lisas Mutter muss nun lernen, Lisa öfter zu fragen, was sie will, anstatt ihr was hinzustellen. Der Hochsitz wird durch einen Stufensitz eingetauscht. Sie kann jetzt selber zu Tisch kommen oder ihn wieder verlassen, wie ein Erwachsener auch. In ihrer Gegenwart wird auch nicht mehr über ihr Essverhalten gesprochen. Außerdem bekommt sie einen Babykühlschrank. Dazu wird beispielsweise ein Nachtkasterl regelmäßig mit Essen gefüllt. Lisa kann selber hingehen und quasi einkaufen. Bei Lisa ist der Babykühlschrank ein voller Erfolg. Sie krabbelt gleich hin und isst ihn halb leer.
Lisa ist in der Phase der Autonomieentwicklung – auch bekannt als Trotzalter. Sie will selber Entscheidungen treffen, sich abgrenzen, ein eigenes Ich aufbauen. Als Übungszone hat sie sich ausgerechnet die Essensaufnahme ausgewählt. Ein Bereich, der ihrer Mutter bereits Sorgen gemacht hat. Mit ihrer steigenden Autonomie hat sie auch die Freude am Essen wiedererlangt. Aber nicht vergessen: Bei jedem Kind muss eine individuelle Lösung gefunden werden!
Gustav, 24 Monate
Seit einem Jahr sind seine Mahlzeiten eine Belastung für die ganze Familie. Er verweigert jede feste Nahrung und erbricht oft nach seinem Falscherl.
Auf der Station fällt auf, dass Gustavs Mutter zwar sehr liebevoll ist, aber doch spürbar immer die Regie führt. Sie kommt ihm in allem zuvor. „Hier ist die Serviette.“ „Stell den Becher nicht so knapp an den Rand.“
Er hat kaum Platz für seine eigenen Entscheidungen. Wir bitten sie daher, keine Anweisungen mehr zu erteilen um zu sehen, ob sich Gustav dann anders verhält.
Gleich zu Anfang bekleckert er sich mit den Suppennudeln, die er an sich nicht essen will. Seine Mutter reagiert nicht. Er ist verdutzt aber pflückt die Nudeln selber weg. Was soll er jetzt mit ihnen anfangen? Die Mutter gibt immer noch keine Anweisung. Da kommt ihm eine Idee! Er wirft sie ins Saftglas und hebt das Glas dann hoch und trinkt daraus. Offensichtlich interessiert ihn, ob der Saft nun anders schmeckt. Daraufhin nimmt er eine ganze Hand Suppennudeln und wirft sie in den Himbeersaft. Dann greift er ins Glas und holt die Nudeln wieder heraus um sie wieder in den Teller zu werfen. So geht es hin und her. Nach drei Wiederholungen, und ohne seine Mutter angesehen zu haben, nimmt er eine ganze Ladung Nudeln und stopft sie sich in den Mund. Die Mutter hört vor Verblüffung selbst zu essen auf. Gustav spielt jetzt, dass er die Nudeln erbricht, aber er spuckt kaum welche aus, sondern isst sie auf. Danach isst er gleich die nächste Ladung. Er klatscht in die Hände und schreit: „Bravo! Bravo!“ Er ist bester Laune. Als Abschluss wirft er die restlichen Nudeln wie Konfetti in die Luft. Gustavs Mutter hat danach Angst, dass er nur unter so einem ausgelassenen Verhalten feste Nahrung essen wird, aber ihre Angst ist unbegründet. Nie wieder lässt er so die Sau raus. Aber wie jedes Kind, spielt er zeitweise mal mit dem Essen oder wehrt sich gegen territoriale Übergriffe. Er will nicht, dass man ungefragt auf seinem Teller umrührt, dass man ihn am Ärmel festhält, etc. Nachdem seine Eltern gelernt haben, seine Rechte zu respektieren, isst Gustav feste Nahrung, als sei das nie ein Problem gewesen. Er ist sehr geschickt dabei und erbricht auch nicht mehr.
Während die meisten Eltern es nicht mögen, wenn ihre Kinder patzen, ist das Experimentieren mit dem Essen für Kinder hochinteressant. Brotstückchen werden in Saft schwammig. Bohnen aber behalten in Kaukau ihre Form – das alles ist sehr aufregend. Und wichtig.
Aber wo zieht man die Grenzen? Wenn Kinder beim Kleckern sehr konzentriert sind, ihr Werk die ganze Zeit im Auge haben und die Welt um sich herum vergessen, sollte man sie nicht unterbrechen. Wenn sie aber nur nebenbei patzen und dabei ganz woanders hinschauen, ist das eher ein Zeichen für Langeweile. Diese Form des Patzens können sie gleich beenden.
Familie Rockt ist ein Elternmagazin und Elternblog – Portal. Das Magazin erscheint alle zwei Monate und bietet nette Artikel für Mütter und Väter und solche die es werden wollen. Auf www.familierockt.com können Eltern über ihr Leben mit Kindern bloggen.
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