ADHS bei Erwachsenen

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Nicht nur bei Kindern, es gibt auch ADHS bei Erwachsenen. Ich habe diesen Winter die Diagnose ADHS bekommen. Das war für mich einer wichtigsten Ereignisse der letzten Jahre. Ich habe immer gewusst, dass ich höchstwahrscheinlich einen Schlag ADHS hab. Allein das paralysierende Rauschen im Kopf, wenn viel um mich herum passiert. Also, wenn zb. zwei Menschen gleichzeitig mit mir reden oder aus verschiedenen Richtungen Geräusche kommen. Außerdem bin ich ja recht impulsiv und fange immer viele Projekte gleichzeitig an. Ich bin zwar gleichzeitig auch – auf Grund von meiner Erziehung – recht diszipliniert und daher habe ich immer versucht viele angefangenen Sachen auch weiterzutreiben oder sogar abzuschließen – aber ich hab mich auch übernommen und oft vieles gut aber nicht super gemacht. Aber die Vorstellung nur einer Profession nachzugehen, war für mich fast körperlich schmerzhaft. Was ich noch auf ADHS zurückgeführt habe, war das Chaos um mich herum: Legasthenie, Unordnung im Kleiderschrank, Schwierigkeiten einen Kalender zu führen, dauernd Sachen zu vergessen und zu verlegen etc. Zusammenfassend war ich aber der Meinung, dass mein ADHS mich antreibt, kreativ sein lässt und mir erlaubt sehr intensive Glücksmomente zu erleben, weil ich mich leicht sehr positiv stimulieren kann.

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Leben mit ADHS

Seit Winter weiß ich, dass ich ADHS mit schwerer Symptomatik habe und mir ist klar geworden, WIE SEHR sich ADHS auf mein Leben ausgewirkt hat. Viel mehr als ich angenommen habe. ADHS hat eine sehr kleinteilige Symptomatik die sich individuell auch sehr unterschiedlich auswirkt und daher auch nicht leicht zu diagnostizieren ist. Auch die Selbstanalyse ist da gar nicht so simpel. Außerdem gibt es unterschiedliche Formen der Aufmerksamkeitsdefizitstörung bzw. verwandte Funktionsstörungen und deren unzählige Mischformen. Asperger und Autismus können bspw mit ADHS korrelieren. Dann gibt es auch noch ADS, eine Aufmerksamkeitsstörung die auch eine herabgesetzte Konzentrationsfähigkeit mit sich bringt, aber keine Hyperaktivität. Diese Menschen sind eher antriebslos, stecken in ihren Grübeleien und Phantastereien fest und kommen schwer in die Gänge und beenden auch schwer Projekte. Legasthenie und Dyslexie sind häufige Begleiter von ADHS oder ADS. Es gibt auch Ausprägungen die sich stark auf die Motorik auswirken. Man hat dann den Bewegungsapparat nicht richtig im Griff. Das kann ungelenk aussehen (ich hab das auch ein wenig). Bei manchen ist auch die sensuelle körperliche Wahrnehmung gestört.

Ordnung und Struktur sind eigentlich für alle Betroffenen eine Herausforderung. Die meisten begegnen dem mit Chaos und Nervosität, andere mit übertriebenem Listenkult und zwanghaften Verhalten. Auch Launenhaftigkeit gehört zu den häufigen Begleiterscheinungen. Manche reagieren auf kleine Probleme cholerisch und lassen sich von positiven Reizen stimmungsmäßig aufpeitschen. Andere reagieren mehr nach innen – aber genauso übersensibel auf positive Reize (fast manisch) und auf kleine negative Reize (mit innerer Verzweiflung). Daher werden auch manchmal Parallelen zwischen ADHS und Boderline gezogen. Schlafstörungen haben auch die meisten. Das Hirn findet einfach keine Ruhe – obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gibt.

Was bei Kindern zu Lernschwächen in der Schule, sozialen Schwierigkeiten und Erziehungsproblemen führt, hört selten als Teenager einfach auf. Im Gegenteil. Die Probleme gehen weiter und führen bei vielen Menschen mit ADHS zu Alkohol- und Drogenproblemen. Sie bleiben oft nicht im selben Job, brechen Ausbildungen ab und können sich schwer mit einem Vorgesetzten arrangieren und sind sehr oft depressiv und zweifeln an ihren Fähigkeiten, weil ihnen die einfachsten Dinge schwer fallen. Angefangen vom Behördenweg, bis hin zum Lesen eines Textes oder der Ausführung konkreter Instruktionen. Was sie gut können: Sie stehen gerne im Mittelpunkt (sind oft Vortragende oder ModeratorInnen) und haben für Probleme schnell einfache Lösungen parat. Sie müssen sich oft aus schwierigen Lebenslagen retten und haben gelernt, Schlupflöcher zu finden oder Dinge ganz anders anzugehen, als gewohnt.

Dass sie gerne neues probieren, kann aber auch Nachteile haben, weil es sich zu einer Suche nach schnellen Kicks auswachsen kann: Drogen und gefährliche Abkürzer aber auch Mutproben sind die Folge davon.

Wie wirkt ADHS bei Erwachsenen und was ist die Ursache?

-Es gibt keine Bremse. Gedanken und Emotionen werden schon von kleinen Reizen aktiviert und hören von selber nicht auf zu wirken – bis ein neuer Reiz kommt, der den ersten ablöst. Wenn man Aufgaben erledigen muss, die nicht sehr interessant sind, kann man von sehr niederschwelligen Reizen bereits abgelenkt werden. Werden unangenehme Gefühle durch einen Reiz ausgelöst, bleibt man in diesem negativen Gefühlsbad stecken, bis irgendwann hoffentlich ein positiver Reiz daherkommt, der stark genug ist, den negativen abzulösen. ADHS führt auch zu Sprunghaftigkeit im Denken. Man kippt von einem Thema ins andere und kann sich nicht beherrschen und einen Punkt bis zu Ende zu denken. Das kann Gespräche mühsam gestalten.

-Informationen und Reize prasseln sehr intensiv und ungefiltert auf einem ein. Daher ist es so schwierig für Ordnung zu sorgen. Gleichzeitig kann der Umgang mit Menschen schwierig werden. Begegnungen mit Menschen lösen Gefühle in einem aus. Wenn dies ungefiltert und ungewichtet passiert, wird es anstrengend. Ein Plausch mit einem Schalterbeamter kann genauso starke Gefühle auslösen, wie das Gespräch mit einem Menschen der einem ganz wichtig ist. Außerdem kommt man durch das permanente Einwirken von Informationen sehr schwer zur Ruhe. Das Hirn muss permanent Informationen bearbeiten. Und wenn nichts auf einen einwirkt, wird man erst recht unruhig und sucht verzweifelt nach einem neuen Reiz, mit dem man sein Hirn in Arbeit setzen kann.

Die Ursache für ADHS ist genetisch. Es hilft keine Diät und kein Beten und kein Trainieren. Trainieren, Listen und Organisationsbehelfe erleichtern das Leben mit einigen der Symptome, aber sie können ADHS nicht ausheilen und lindern eben nur teilweise die Leiden, die durch das Syndrom entstehen.

Was habe ich gegen mein ADHS getan?

Ich nehme seit April Strattera. Ich habe mich gegen Ritalin entschieden, weil ich eine gleichmässige konstante Wirkung haben wollte. Strattera muss man ca. 3 Monate nehmen, bis sich die Wirkung richtig entfaltet, dafür wirkt es dann 24 Stunden durch. Ritalin wirkt nur 3-5 Stunden. Die Medikamention von ADHS oder ADS ist gar nicht so leicht. Jeder reagiert anders auf die unterschiedlichen Präparate. Viele müssen sich „durchprobieren“ bis sie ein Mittel finden, dass gut anschlägt. Was ich mitbekommen habe, wirken Ritalin und ähnliche Medikamente wie Elvanse auf das Belohnungssystem. Strattera wirkt eher auf die Konzentration. Es wird verschiedene Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen geben, die das eine oder das andere oder eine Kombi von beiden brauchen.

In der zweiten Woche der Einnahme von Strattera hatte ich starke depressive Gefühle. Wenn der Körper ein Mittel nicht kennt, reagiert er oft mit Nebenwirkungen. Nach einer Woche waren diese schwierigen Gefühle aber zum Glück weg. Ein starkes Schwitzen eine Stunde nach der Einnahme blieb noch mehrere Wochen. Und wenn ich nicht vor der Einnahme was esse, wird mir bis heute 15 Minuten übel. Ansonsten habe ich durch die Medikamente nun gemerkt, WIE sehr ADHS mein Leben erschwert hat.

Warum mir die Medikamente helfen

-Die erste positive Wirkung die ich gespürt habe – und zwar schon nach zwei Wochen: Ich bin runtergekommen. In meinem Kopf ist Ruhe eingezogen. Ich habe das erste Mal in meinen Leben gemerkt, wie es ist, nur da zu sitzen und sich zu entspannen. Mich nicht unbedingt mit irgendetwas beschäftigen zu müssen. Früher bin ich fast immer überallhin zu spät gekommen, weil ich solche Panik davor hatte, einige Minuten in Warteposition zu sein und nicht zu wissen, womit ich mich beschäftigen soll. Ich kann heute auf die Strassenbahn warten und dabei in die Luft schauen. Was für ein Luxusgefühl! Das war früher für mich eine körperliche Qual. Hand in Hand ging damit auch, dass ich meine Schlafstörung los wurde. Ich werde gegen Abend müde und freue mich schon aufs Schlafen. Wenn ich mich hinlege, weiß ich dass ich 5 bis 15 Minuten später schlafen werde. Davor ist mir das 6 von 7 Nächten nicht gelungen. Ich bin mindestens 1 Stunde, oft 4 Stunden wach gelegen und habe mir Sorgen gemacht, weil ich draufgekommen bin, dass ich zb eine Rechnung nicht einbezahlt habe (die vollkommen wurscht war) und danach das Gefühl der Unruhe deswegen nicht mehr abstellen konnte. Vor allem wenn rund um mich herum alles ruhig und reizarm war.

-Die zweite positive Wirkung kam nach ca. 3 Wochen: Ich habe meine Soziophobie verloren. Und das ist eine ENORME Erleichterung für mich. Das ändert ALLES. Ich erlebe Menschen nicht mehr so hautnah und intensiv. Ich habe früher kaum auf der Straße gehen können, ohne jeden Passanten zu „spüren“. Was extrem anstrengend und unangenehm ist. Wenn ich mit einer Person geplaudert habe – und wenn´s nur eine Verkäuferin etc. war, habe ich nachher den emotionalen Abdruck des Gesprächs manchmal stundenlang mit mir rumgetragen. Ich konnte mich emotional nicht abgrenzen. Oft hatte ich das Gefühl ich lös‘ mich auf und die Menschen gehen in mich hinein. An manchen Tagen war es so schlimm, dass ich richtige Panikattacken bekommen habe – bzw. einen ähnlichen Zustand, der sich langsam verflüchtigt, wenn ich mich aus der Situation entferne. Einmal musste ich zum Psychosozialen Dienst fahren und eine Beruhigungstablette bekommen, weil ich nicht mehr aufrecht gehen konnte, und das Gefühl der Auflösung so stark wurde. Mein  automatisiertes Reinversetzen in andere Menschen bringt auch mit sich, dass ich mich für andere Menschen sehr verantwortlich fühle und viele Menschen haben das auch gespürt und haben an mir gesaugt. Heute kann ich Menschen begegnen und trotzdem bei mir bleiben. Wenn die Begegnung zu Ende ist, widme ich mich wieder anderen Dingen, ohne dass übertrieben nervöse Gefühle nachschwingen.

-Die dritte positive Wirkung stellte sich nach einer Woche ein: Ich konzentriere mich einfach leichter. Wenn ich mit einer Aufgabe anfange, versinke ich darin und genieße es, sie fertig zu bringen. Ob das Buchhaltung ist, oder einen Text schreiben, oder was umräumen oder aufräumen. Ich fühle mich dabei sehr zufrieden und wohl. Auch Routineaufgaben, die ich früher nur unter größter Überwindung erledigen konnte, mache ich heute gern. In meinen Kasten liegen seit drei Monaten Röcke auf Röcke und Hosen auf Hosen. Das war in meinen ganzen Leben noch nie der Fall. Ich hab mir manchmal gedacht: Also so fühlen sich die normalen Menschen! Aber warum beschweren sie sich dann dauernd über ihr Leben? Wenn das normal ist, ist ja alles ganz leicht!

Ich spür das ADHS schon hin und wieder durch. Aber das macht nichts. Es ist ein familiäres Gefühl und es sind nur Restgefühle. Aber grundsätzlich hat sich mein Leben enorm erleichtert. Ich habe viel mehr Ressourcen und ich erkenne, welche Projekte ich schon immer hätte besser machen können, und es fällt mir plötzlich leicht sie besser zu machen. Ich nehme mir mehr Zeit und gehe mehr ins Detail. Und ich habe eine Freude daran. Bevor ich die Diagnose bekommen habe, war ich bereits so verstrickt in meinen ganzen inneren und äusseren Chaos, dass ich nahe am Verzweifeln war.

Ich nehme sehr gerne in Kauf mein ganzes Leben lang in der Früh eine Tablette zu schlucken, um mich endlich normal zu fühlen und mein Leben normal zu meistern. Ich finde es sehr schade, dass ich erst mit 40 draufgekommen bin. Das macht mich traurig.

Ca. 2-5% der Erwachsenen haben ADHS oder ADS.

Ich würde mir noch wünschen, dass man stärker erforscht, warum manche Menschen mit ADHS oder ADS auf das eine oder auf das andere Medikament besser ansprechen und ob es einen Unterschied zwischen ADHS und ADS in der Medikamentenverträglichkeit gibt. Außerdem hätte ich gerne, dass man medial offenlegt, wie Gruppen wie Scientology versuchen die Diagnose ADHS oder ADS zu verharmlosen und beispielsweise die Eltern von betroffenen Kindern die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben.

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About Author

Patrice Fuchs ist 41 Jahre alt, betreibt in Wien ein Umstandsmoden- und ein Designgeschäft, eine Zeitung "Familie Rockt", eine Fernsehshow "Familie Rockt TV", dreht Dokumentationen und unterhält dieses Elternblogportal. Aja und Mama von drei Gschropen ist sie auch.

2 Kommentare

  1. Nicole Kirchler on

    Interessant ist auch das Thema „Hochsensibilität“. Sehr ähnlich. Siehe „Hochsensible Mütter“ von Brigitte Schorr.

    • Sehr interessant! Danke für den Input. Das passt natürlich sehr gut hier hinein. Viele Ähnlichkeiten und einige Unterschiede: Wer hochsensibel ist scheint eine reizarme Umgebung angenehm zu finden, weil sie das erleichternd wirkt. Wenn ADHS dazukommt, wird es besonders schwierig abzuschalten, weil dann ständig nach Reizen gesucht wird, die einen dann auch wieder überfordern. Aber wenn man jetzt diese ganzen Krankheitskreise zusammenfügt: Hochsensibilität, ADHS, ADS, Asperger, Autismus, Legasthenie…das wird ein sehr komplexes Syndrom